Zusammengefasst von Anja Schirwinski
Seit meine Hündin Frida mit fünf Monaten aus einem rumänischen Shelter zu mir kam, beschäftige ich mich intensiv mit Hundethemen - von Alltagstraining bis Verhaltensbesonderheiten. Viele der Fragen, die in Podcasts besprochen werden, kenne ich aus unserer gemeinsamen Erfahrung nur zu gut. Deshalb fasse ich hier die für mich interessantesten Podcastfolgen zusammen und ergänze sie mit meinen eigenen Erlebnissen mit Frida.
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In dieser Episode des Podcasts "The Petfood Family" spricht Host Jan Dießner mit Dr. Marie Nitzschner, einer promovierten Verhaltensbiologin und Hundetrainerin. Mit über zehn Jahren Forschungserfahrung am Max-Planck-Institut verbindet sie wissenschaftliche Tiefe mit praktischer Anwendung im Hundetraining.
Die zentralen Themen der Episode sind die Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und alltäglicher Hundehaltung, die grundlegenden Prinzipien des Lernens bei Hunden sowie die Komplexität und Formbarkeit der Hundepersönlichkeit. Das Gespräch beleuchtet, wie eine wissenschaftlich fundierte, aber undogmatische Herangehensweise helfen kann, Hunde besser zu verstehen und Missverständnisse zu vermeiden. Es richtet sich an alle Hundehalter:innen, die über vereinfachende Labels und Meinungen hinausblicken und ihren Hund als lernfähiges, anpassungsfähiges Individuum begreifen möchten.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Meinung von Fakten trennen: Dr. Nitzschner schätzt, dass 90 % der öffentlichen Diskussionen über Hunde auf Meinungen statt auf wissenschaftlichen Fakten basieren. Sei kritisch und hinterfrage pauschale Aussagen, auch wenn sie als „wissenschaftlich belegt“ präsentiert werden.
- Fokus auf erwünschtes Verhalten: Konzentriere dich darauf, deinem Hund beizubringen, was er tun soll, anstatt ihn ständig dafür zu korrigieren, was er nicht tun soll. Dieser Fokuswechsel reduziert automatisch die Notwendigkeit von Strafen und fördert eine positive Lernatmosphäre.
- Vermeide starre Labels: Bezeichne deinen Hund nicht pauschal als „Angsthund“ oder „Pöbler“. Solche Labels können zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, da sie deine Wahrnehmung und deinen Umgang mit dem Hund einschränken und ihm die Chance nehmen, sich weiterzuentwickeln.
- Persönlichkeit ist dynamisch: Die Persönlichkeit eines Hundes ist kein starres Konstrukt. Sie wird stark vom Umfeld, den gemachten Erfahrungen und dem Umgang mit Bezugspersonen geprägt. Ein Hund kann sich in unterschiedlichen Situationen oder bei verschiedenen Menschen völlig anders verhalten.
- Kontrollierter Stress fördert Resilienz: Hunde brauchen kleine, bewältigbare Herausforderungen, um Selbstvertrauen und Problemlösungskompetenz zu entwickeln. Sie künstlich von allen Stressoren fernzuhalten, ist ebenso wenig hilfreich wie sie zu überfordern.
- Lernen ist universell: Hunde lernen - genau wie Menschen - nach einfachen Prinzipien: Verhalten, das sich für sie lohnt (positive Konsequenzen hat), wird häufiger gezeigt. Probleme im Training entstehen oft, weil der individuelle Grund für ein Verhalten nicht verstanden wird.
- Welpentests sind nur eine Momentaufnahme: Laut Dr. Nitzschner gibt es kaum wissenschaftliche Belege dafür, dass das Verhalten eines Welpen im Test zuverlässig sein späteres Wesen als erwachsener Hund vorhersagt. Sie zeigen eher den aktuellen Zustand und können helfen, unmittelbare Bedürfnisse zu erkennen.
Wissenschaft trifft Praxis: Die Rolle der Verhaltensbiologie
Dr. Marie Nitzschner erläutert zu Beginn ihre Motivation, wissenschaftliche Erkenntnisse für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Viele wertvolle Studienergebnisse bleiben oft in Fachpublikationen verborgen und erreichen die Menschen nicht, die täglich mit Hunden leben und arbeiten. Ihr Ziel ist es, diese Lücke durch „Wissenschaftskommunikation“ zu schließen.
Ein zentraler Punkt, den sie hervorhebt, ist die Dominanz von Meinungen gegenüber Fakten in der Hundewelt. Sie warnt davor, Aussagen blind zu vertrauen, nur weil sie von einer Person mit wissenschaftlichem Titel stammen. Auch eine Wissenschaftlerin könne eine persönliche Meinung äußern, die nicht zwangsläufig die gesamte Faktenlage widerspiegelt. Echte Wissenschaft, so Dr. Nitzschner, zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, die eigenen Annahmen zu hinterfragen und zu akzeptieren, dass sich Wissen weiterentwickelt.
Wie Hunde lernen: Ein Blick auf die Grundlagen
Auf die Frage, wie Hunde lernen, antwortet Dr. Nitzschner, dass die grundlegenden Mechanismen bei allen Lebewesen, einschließlich des Menschen, sehr ähnlich sind. Der Kernsatz lautet: „Was cool ist, wird öfter gemacht. Was scheiße ist, wird weniger gemacht.“ Verhalten wird also durch seine Konsequenzen geformt. Probleme im Zusammenleben entstehen laut ihr oft nicht, weil das Lernen an sich schwer ist, sondern weil die Halter:innen die Situation nicht genau genug analysieren. Es sei entscheidend, zu verstehen, welchen Zweck ein bestimmtes Verhalten aus der Sicht des Hundes erfüllt.
In diesem Zusammenhang spricht sie auch die Rolle von Stress an. Ein gewisses Maß an Stress in Form von kleinen, lösbaren Herausforderungen sei für eine gesunde Entwicklung wichtig. Ein Hund, der lernt, dass er stressige Situationen erfolgreich meistern kann – idealerweise mit sozialer Unterstützung durch seinen Menschen –, entwickelt Selbstvertrauen und Resilienz. Eine künstliche „Wattebausch“-Umgebung sei ebenso kontraproduktiv wie eine ständige Überforderung.
Das komplexe Thema „Strafe“ und die Polarisierung im Hundetraining
Dr. Nitzschner beobachtet eine starke Polarisierung in der Debatte um Trainingsmethoden, insbesondere beim Thema Strafe. Sie erklärt, dass der Begriff „Strafe“ in der Wissenschaft neutral definiert ist als eine Konsequenz, die die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens verringert. Dies könne von einem einfachen „Nein“ bis hin zu tierschutzrelevanten Handlungen reichen. Die Diskussion werde oft undifferenziert geführt, weil beide Extreme - die strikte Ablehnung jeder Form von Korrektur und die Rechtfertigung harter Methoden - den Blick auf den breiten Mittelweg verstellen.
Ihr Lösungsansatz ist ein Perspektivwechsel: Anstatt den Fokus darauf zu legen, dem Hund zu sagen, was er nicht tun soll, sei es weitaus effektiver, ihm klar zu vermitteln, was er stattdessen tun soll. Wer sich auf das Training erwünschter Alternativen konzentriert, so Dr. Nitzschner, wird feststellen, dass der Bedarf an strafenden Maßnahmen ganz von allein drastisch sinkt.
Die Persönlichkeit des Hundes: Mehr als nur eine Schublade
Basierend auf der Recherche für ihr Buch „Die Persönlichkeit des Hundes“ stellt Dr. Nitzschner klar, dass es wissenschaftlich nicht haltbar ist, Hunde in feste Persönlichkeitstypen einzuteilen. Stattdessen beschreibt man Persönlichkeit anhand von Dimensionen, auf denen sich jedes Individuum an einer anderen Stelle befindet. Zu den wichtigsten Merkmalen gehören laut Studienlage:
- Aggressivität
- Trainierbarkeit
- Ängstlichkeit
- Geselligkeit
- Aktivitätslevel
Diese Eigenschaften sind nicht in Stein gemeißelt. Dr. Nitzschner betont, dass das Umfeld und die Erfahrungen eines Hundes einen massiven Einfluss darauf haben, wie sich seine Persönlichkeit entwickelt und zeigt. Ein Hund, der bei einer Person an der Leine pöbelt, kann sich bei einer anderen Person vorbildlich verhalten. Das Verhalten ist also stark kontextabhängig.
Die Gefahr von Labels: Warum „der Angsthund“ nicht existiert
Eine der wichtigsten Botschaften der Episode ist die Warnung vor pauschalen Labels. Dr. Nitzschner erklärt, dass die Bezeichnung eines Hundes als „Angsthund“ extrem problematisch sei. Ein solches Label führe dazu, dass der Mensch den Hund nur noch durch diese eine Brille sieht, ihm weniger zutraut und ihn unbewusst in dieser Rolle gefangen hält. Der Hund erhält so kaum Gelegenheiten, neue, positive Erfahrungen zu machen und zu lernen, dass er Herausforderungen bewältigen kann.
Sie erzählt das Beispiel einer Hündin aus dem Tierschutz, die anfangs extrem verängstigt war, sich aber nach gezieltem Training und dem Aufbau von Selbstvertrauen als lebenslustiger und frecher Hund entpuppte. Hätte man sie als „Angsthund“ abgestempelt, wäre ihre wahre Persönlichkeit möglicherweise nie zum Vorschein gekommen. Es sei entscheidend, den Hund als Ganzes zu sehen und ihm die Chance zu geben, über seine momentanen Schwierigkeiten hinauszuwachsen.
Praktische Schritte für ein besseres Verständnis deines Hundes
- Beobachte und analysiere: Bevor du ein Verhalten ändern willst, versuche zu verstehen, warum dein Hund es aus seiner Sicht zeigt. Welchen Nutzen hat es für ihn in dieser spezifischen Situation?
- Fördere Selbstwirksamkeit: Gib deinem Hund kleine, machbare Aufgaben, bei denen er Erfolgserlebnisse hat. Das kann ein einfaches Suchspiel oder das Erlernen eines neuen Tricks sein. Jeder kleine Erfolg stärkt sein Selbstvertrauen.
- Hinterfrage deine eigenen Annahmen: Überprüfe, ob du deinem Hund ein Label aufgedrückt hast („er ist stur“, „sie ist dominant“). Versuche, stattdessen das konkrete Verhalten in der jeweiligen Situation zu beschreiben.
- Sei ein sicherer Hafen: Biete deinem Hund in neuen oder stressigen Situationen soziale Unterstützung. Deine ruhige und souveräne Präsenz hilft ihm, die Welt als weniger bedrohlich wahrzunehmen.
- Fokussiere dich auf das, was du willst: Anstatt zu sagen „Zieh nicht an der Leine“, trainiere aktiv ein „Geh an lockerer Leine“. Positive Formulierungen helfen dir, dein Trainingsziel klarer zu definieren und umzusetzen.